Bewusster leben durch Schauspielen
Dass Schauspielkurse auch fürs „echte“ Leben hilfreich sein können, zeigt Ingrid Sturms Schule des Theaters. Seit über zwanzig Jahren wird hier nicht nur gelehrt, wie gute Schauspielkunst funktioniert, sondern auch das Leben selbst als kreativen Akt leben zu können. Denn durchs Schauspielen lernen wir zum Beispiel, wie sich die Natürlichkeit unserer Stimme entwickelt und stärkt, wie wir durch einen Fokus zugleich entspannt und hellwach sein können, wie wir durch das Sprechen auch unsere alltägliche Kommunikation entfalten können, was unsere Körper alles ausdrücken können – und das ganz ohne Worte.
Kurzum: Fantasie und persönlicher Ausdruck werden durch ein geschultes Selbst- und Körperbewusstsein auch in anderen Lebensbereichen beflügelt. Wie das genau geht, erklärt Ingrid Sturm im Interview – für sie ist ein Schauspielkurs ein humanistisches Training, das die wichtigsten menschlichen Fähigkeiten schult, vor allem Präsenz und Körperbewusstsein. Dadurch werde nicht nur die Fähigkeit zu Empathie, zu (Selbst)Wertschätzung, zu Respekt und zu einer gewachsenen positiven Lebenssicht entwickelt, sondern auch die Schmerz- und Glücksbereitschaft, die Toleranz für alles Fremde, für Konflikte sowie die Bereitschaft zu einem offenen Miteinander gesteigert.
Was macht die Schulung der Aufmerksamkeit so zentral fürs Schauspielen?
Die Frage ist: für welches Schauspiel? Für ein lebendiges Schauspiel, das von Spontaneität getragen ist, ist Aufmerksamkeit eine unabdingbare Fähigkeit. Denn Aufmerksamkeit bedeutet Präsenz und das heißt in jedem Augenblick ganz bewusst da zu sein. Ist die Schauspielerin oder der Schauspieler präsent, entsteht eine Offenheit, die Inspiration, Wahrnehmung und Fantasie zulässt. Nur so können die Rollen mit authentischen Inhalten gefüllt werden.
Denn letztendlich stehen Schauspieler oft einem Problem gegenüber: Wie können sie vergessen, dass sie wissen, was kommt? Sie kennen die Drehbücher. Sie kennen die Theaterstücke. Und dennoch sollen sie Gefühle darstellen, die im Moment, in der aktuellen Situation der Rolle, verankert sind. Zum Beispiel: Julia weiß nicht, dass sie bald sterben wird – die sie darstellende Schauspielerin schon! Wie kann die Schauspielerin es also schaffen dieses Endergebnis zu vergessen? Der Schlüssel dazu ist die Schulung der Präsenz. Denn genau dieses Training ermöglicht es, in der Gegenwart zu sein und sich von vorausdenkendem Wissen zu befreien. Die Darstellerin der Julia kann so in der Situation bleiben, wo sie nichts Anderes will, als mit Romeo zusammen zu sein.
Genau mit dieser Fragestellung haben sich auch die legendären Schauspiellehrer Konstantin Stanislawski und Lee Strasberg beschäftigt und sind , grob herunter gebrochen, zu folgendem Schluss gelangt: Gefühle funktionieren nicht über Willensstärke – sie brauchen konkrete Auslöser, Stimulanzen. Und die Offenheit dafür entsteht durch das Aufmerksamkeitstraining. So kann jeder seine persönlichen Stimulanzen kennenlernen und für die Rollenarbeit nutzen. Konkret heißt das, zu hinterfragen, was genau einen traurig, wütend, etc. macht. Eine geschulte Aufmerksamkeit ermöglicht den persönlichen Erfahrungsspeicher zu aktivieren – und das ist ausschlaggebend: denn Trauer ist nicht gleich Trauer und Wut nicht gleich Wut. Emotionen sind sehr facettenreich.
Essentiell für die Schulung der Aufmerksamkeit sind ein starkes Körperbewusstsein und eine hohe Konzentrationsfähigkeit. Denn im Zusammenspiel dieser beiden Komponenten und einer gewissen Form der Entspannung, kann ich ganz in den Moment kommen und alles urteilsfrei wahrnehmen, was tatsächlich da ist – und nicht, was ich denke, was da ist oder was da sein sollte. So kann ich auch meine genauen Gefühlsstimulanzen wahrnehmen lernen und damit ganz aus dem Moment, von Moment zu Moment eine Rolle spielen. Das, was war und das, was kommt, tritt somit in den Hintergrund. Das ist ein sehr wacher Zustand, denn die Gegenwart ist das einzig wirklich Lebendige.
Wie geht es den Schauspielkursteilnehmern mit dieser Anforderung mehr im Moment zu leben?
Viele sind zunächst sehr über diesen Ansatz überrascht. Denn Schauspielerei wird gerne damit verbunden, die Möglichkeit zu haben, dem eigenen Alltag zu entfliehen und durch die gespielten Rollen jemand anderer zu sein. Also dem Eskapistischen und dem Maskenhaften. Sich zu verkleiden. Und verständlicherweise reizt auch die Vorstellung vom Rampenlicht und Ruhm. Davon, gesehen zu werden. Die meisten rechnen jedoch nicht damit, dass es so wichtig ist, ihr Körperbewusstsein und ihre Aufmerksamkeit so umfangreich zu trainieren. Auf der Bühne sieht alles so einfach aus – aber Schauspielen ist ein knochenharter Job.
Stellen Sie sich dieser Herausforderung, mehr in den Moment zu kommen, dann merken die Kursteilnehmer schon in den ersten paar Wochen, wie sich ihr Zugang zur Welt verändert. Es beginnt mit Sinnlichem. Sie sehen mehr. Riechen mehr. Hören mehr. Schmecken mehr. Sie fühlen einfach mehr. Sie bekommen nicht nur mehr von der Welt, die sie umringt, mit, sondern fangen auch an, mehr in sich hinein zu spüren. Was ihnen gut tut. Und was nicht.
Mit diesem gestärkten Bewusstsein für ihre Bedürfnisse und ihre Umwelt sehen sie sich auch ihre verschiedenen Lebensbereiche an und reflektieren diese. Und das kann sogar zu größeren Umwälzungen führen: Da werden Karrierepfade neu ausgerichtet, Wohnsitze verlegt, neue Beziehungen geknüpft und andere beendet.
Diese Erkenntnis, „nur wenn ich bei mir bin, dann kann ich etwas aus mir heraus machen“, ist letztendlich für die Teilnehmer dann oft viel schöner als die Rollenarbeit an sich, da sie gelernt haben, in ihrem eigenen Leben eine aktive Rolle zu spielen und sich als schöpferischen Menschen zu empfinden. Und genau darum geht es bei der Schule des Theaters: um die Frage, wie durch Kunst ein besseres (Zusammen)Leben geschaffen werden kann. Aber auch umgekehrt: wie durch bewussteres Leben bessere Kunst geschaffen werden kann.
Schauspielen lernen heißt also vor allem zu sich zu kommen. Wie schaffen wir das im Alltag?
Im Grunde geht es darum, das Übermaß an Kopfarbeit zu verringern und die Energie vom mentalen Bereich wieder im ganzen Körper zu verteilen. Sich zu beruhigen und den Gedankenfluss auf die körperlichen Wahrnehmungen zu lenken. Das klingt jetzt womöglich etwas abstrakt. Aber das geht recht einfach mit folgender Übung:
Nehmen Sie sich etwas Zeit. Circa fünfzehn Minuten. Das geht zum Beispiel auch in der Straßenbahn. Oder zuhause unter der Dusche.
Bringen Sie Ihren Körper in eine angenehme Haltung.
Schließen Sie Ihre Augen.
Beginnen Sie auf Ihre Atmung zu achten.
Dann lassen Sie Ihren Kopf langsam nach vorne sinken.
Spüren Sie das Gewicht Ihres Kopfes. Spüren Sie genau in das Gefühl hinein, wie die Schwerkraft Ihren Kopf nach unten zieht.
Beginnen Sie Ihren Kopf wie ein Pendel langsam zu bewegen. Zuerst zur linken Schulter, dann zur rechten. Langsam hin und her.
Beobachten Sie, was diese Bewegung mit ihren Nackenmuskel macht.
Hin und her.
Kommen Sie wieder in der Mitte an.
Rollen Sie Ihren Kopf langsam wieder nach oben.
Spüren Sie wieder in sich hinein, was dabei im Nacken passiert.
Öffnen Sie langsam Ihre Augen.
Betrachten Sie Ihre Umgebung.
Fragen Sie sich dabei, ob sich etwas verändert hat. (Zum Beispiel: Sehen Sie Dinge schärfer? Farbiger?)
Im zweiten Teil der Übung konzentrieren wir uns dann aufs Hören.
Schließen Sie wieder Ihre Augen.
Spüren Sie nun in Ihre Ohren hinein. In Ihre Gehörgänge. Spüren Sie, wie Ihr Trommelfell bei jedem Geräusch in Schwingung gerät? Spüren Sie, wie die tausenden Härchen zu den Tönen tanzen?
Beginnen Sie auf die Geräusche in Ihrer Umgebung zu hören. In Ihrem Raum. Was hören Sie?
Blenden Sie nach eine Weile die Geräusche in Ihrem Raum aus und konzentrieren Sie sich auf die Geräusche innerhalb der Wohnung, des Hauses. Was hören Sie nun?
Blenden Sie etwas später die Geräusche innerhalb der Wohnung wieder aus und fokussieren Sie auf die Geräusche außerhalb des Hauses. Was hören Sie dort?
Sie können sich nun abwechselnd immer einer räumlichen Ebene widmen – springen Sie nach Belieben zwischen ihnen herum.
Öffnen Sie nun wieder Ihre Augen.
Schon allein anhand dieser kleinen Übung werden Sie überrascht feststellen, wie reduziert unsere Aufmerksamkeit und Wahrnehmung im Alltag sind. Denn sind wir im Stress und angespannt, dann spüren wir viel weniger, als wenn wir entspannt sind. Mit der Zeit werden Sie verstehen, dass Achtsamkeit eine große Wachheit auf den Moment bedeutet. Und genau diese Wachheit brauchen wir, um loszulassen. Um uns zu entspannen, uns einfach sein zu lassen und uns selbst zu spüren.
Dieses Training ist nicht zuletzt auch deswegen ein humanistisches, weil wir in diesen Bemühungen mit uns selbst in Dialog zu treten nicht alleine sind: Auch die anderen Kursteilnehmer durchwandern diesen Prozess. Wir sind uns gegenseitig Zeuge davon, wie Menschlichkeit passiert. Wie wir unsere Bedürfnisse kennen lernen. Wie wir unseren Schwächen und Ängsten begegnen. Mitzuerleben, wie es den anderen dabei geht, fördert Respekt und Empathie. Und letztendlich sind genau die Momente, wo der Mensch seinem Sein und seiner Wahrhaftigkeit nachgeht, die schönsten. Die, in denen er sich verwundbar zeigt. Das sind starke und tiefe Verbundenheit schaffende Augenblicke. Und genau das eröffnet die Möglichkeit ganz neuer Produktivität und großer Glücksmomente – denn beim Schauspielen lernen wir, die Energie von unseren Schwächen und Ängsten zu kanalisieren und künstlerisch zum Ausdruck zu bringen. Aus Blei Gold zu machen. Und das ist unglaublich befreiend.
Ingrid Sturm ist die Leiterin der Schule des Theaters und kann auf eine über dreißigjährige Karriere als Schauspielerin, Regisseurin, Körpertherapeutin und Schauspieldozentin zurückblicken. Sie ist Gründerin der Schule des Theaters, in der sie auch als Schauspieltrainerin tätig ist.
Schule des Theaters
A: Hermanngasse 31/1, 1070 Wien
T: +43 699 10 50 9546
M: office@nullschuledestheaters.at
W: www.schuledestheaters.at
Die Kurse der Schule des Theaters richten sich ohne Altersbeschränkung an alle Schauspielbegeisterten – vom ambitionierten Amateur bis zum bühnenerprobten Profi. Hier finden Sie zum Kurskalender.
Fotos: Turlach O Broin, Agnes Edvall, Laurent Ziegler / Schule des Theaters