Urbanes Lebensgefühl und heilsame Stille
Wien gehört zu den zehn ruhigsten Städten Europas, dennoch gibt es auch hier einen Geräuschpegel aus brummendem Verkehr, bimmelnder Straßenbahn, Stimmen und Musik. In einer Stadt ist eben immer etwas los, was ja auch einen Teil ihrer Attraktivität ausmacht. Damit Alltagsgeräusche nicht zum Lärmproblem werden, können auch Architektur und Raumplanung zu mehr Ruhe beitragen. Und wenn es doch einmal rundherum zu laut wird, hilft der regelmäßige Rückzug in die Stille.
Lebendigkeit macht Lärm. Das trifft nicht nur auf fröhlich spielende Kinder zu, sondern lässt sich auch gut auf den Lebensraum übertragen – auf die Stadt zum Beispiel. In einer lebendigen Stadt, in der viele Menschen auf begrenztem Raum ihrem Alltag nachgehen, kann nicht die Stille wie auf einem einsamen Berggipfel herrschen. Und trotzdem: Zu viel Lärm, besonders wenn er andauert, kann zur Belastung werden.
Dabei ist der hohe Geräuschpegel in den Städten alles andere als neu. Mit der Industrialisierung begann in den Innenhöfen das Hämmern, Brummen und Dröhnen der Maschinen. Im Jahr 1844, also lange, bevor das erste Auto durch Wiens Straßen rollte, bemerkte der Dichter Adalbert Stifter in Wien „ein einziges dichtes, dumpfes, fortgehendes Brausen“. Und die Reisejournalistin Emmy von Dincklage beschwerte sich 1879 über den „ungeheuerlichen Lärm“, der von Fuhrwerken, Hundewagen, Karren und knarrenden Kohlenwagen ausgeht und „alles Ruhen und Musizieren einer ganzen Straße übertönt“. Die krachenden Fuhrwerke gibt es heute nicht mehr. Stattdessen können Autos und Straßenbahnen, aber auch Altglascontainer und Schanigärten zur Herausforderung für empfindliche Ohren werden.
Mit Lautstärke umgehen
„Eine Stadt muss mit der Lautstärke umgehen lernen. Laut ist nicht böse, leise nicht gut“, meint dazu der Komponist Peter Androsch, Leiter des Linzer Hörstadt-Projektes und des Co.Labs Akustische Ökologie an der Kunstuni Linz. Ob etwas lebendige Geräuschkulisse oder störender Lärm ist, lässt sich gar nicht objektiv beurteilen. Was für die einen zu laut ist, nehmen andere nicht einmal als Beeinträchtigung wahr. Oft suchen wir sogar bewusst Orte auf, an denen es besonders laut ist, wie ein Konzert oder die Besucherterrasse des Flughafens. „Alles, was lebt, erzeugt Schall. Es geht nur darum, was wir hören wollen und was nicht. Und das ist nicht für alle gleich“, so Peter Androsch.
Weil eben nicht alle alles hören wollen, hat es immer schon Bemühungen gegeben, die Geräusche der Stadt zu dämpfen. Im 19. Jahrhundert wurde das Kopfsteinpflaster der Straßen durch Holzstöckelpflaster oder Asphalt ersetzt, was zumindest dem ohrenbetäubenden Rumpeln der Fuhrwerke ein Ende gemacht hat. Die beschlagenen Hufe der Pferde erzeugten jedoch weiterhin störenden Lärm. Und dann kam die große Hoffnung für alle, die sich nach mehr Ruhe sehnten: das Automobil! Im Jahr 1899 schwärmte „Scientific American“, dass „leichte gummibereifte Fahrzeuge […] schnell und geräuschlos über den glatten Straßenbelag fahren“. – Was damals den Ohren Erleichterung verschaffte, ist allerdings heute wieder für einen Großteil der Geräuschkulisse der Stadt verantwortlich – trotz Gummireifen und glatter Asphaltstraßen.
Wiese schluckt Schall
Doch es geht nicht nur um die schiere Menge der Geräusche, die auf kleinem Raum zusammenkommen, sondern auch darum, dass in einer Stadt viele Resonanzflächen existieren, die den Schall „zusammenhalten und verstärken“, wie der Publizist August Silberstein bereits 1873 beschrieb. Das gilt heute wie damals, bestätigt Dr. Harald Graf-Müller, Sachverständiger für Technische Physik, Schalltechnik, Schwingungstechnik und Akustik (akustikdesign.at): „Insbesondere in Häuserschluchten, wo die Fronten parallel zueinander stehen, wird der Schall zwischen beiden Seiten hin- und herreflektiert und kann nicht entweichen.“ Extreme Beispiele dafür sind die Straßen von New York – mit einem Lärmpegel von bis zu 90 Dezibel einer der lautesten Städte der Welt. Gefühlt ist das mehr als doppelt so laut wie die mit 70 Dezibel am stärksten durch Lärm belasteten Stellen Wiens.
Großen Einfluss darauf, wie laut es in einer Straße oder einem Stadtviertel ist, hat dabei auch die Beschaffenheit der Häuserfronten. „Glasbetonte Oberflächen verstärken den Lärm, weil sie Schall reflektieren. Gebäude mit strukturierten oder zerklüfteten Oberflächen sorgen hingegen eher für Ruhe, weil dort der Schall in viele verschiedene Richtungen verteilt wird“, so Graf-Müller. Eine mehrfach beruhigende Wirkung hat die Fassadenbegrünung. Pflanzen, die sich an der Hausfront hochranken, sorgen nicht nur für Abkühlung, sondern zerstreuen gleichzeitig die Schallwellen und bringen so etwas mehr Ruhe in die Stadt. Auch Bäume und Sträucher absorbieren den Schall, genauso wie Wiesenflächen: „Aus akustischer Sicht ist es günstig, Gemeinschaftsflächen nicht zuzubetonieren, sondern lieber Rasen wachsen zu lassen, der den Schall schluckt, anstatt ihn zu reflektieren“, so der Schallschutz-Experte.
Akustische Ökologie
Peter Androschs „Hörstadt“ dient seit vielen Jahren als Forschungs- und Beratungsstelle rund um Fragen der akustischen Gestaltung und setzt sich dafür ein, dass auch das Hörerlebnis in die Stadtplanung einbezogen wird. „Stadtplanung und Architektur schaffen die akustischen Verhältnisse. Wie können Akustik und Architektur im Interesse der Lebensqualität wieder zusammenfinden?“, fragt er und wünscht sich, dass ganz im Sinne der akustischen Ökologie anstatt der glatten, harten Fassaden lieber vielfältige Materialien verwendet werden, die den Schall teilweise absorbieren und diffundieren. Demnach ist es auch sinnvoll, das aufwändige Fassadendekor eines Gründerzeithauses wiederherzustellen oder bei der Planung von Neubauten die schallabsorbierenden und -zerstreuenden Eigenschaften von Fassaden mitzubedenken. Ein Lichtblick für Androsch sind in der Hinsicht die Klimaschutzmaßnahmen der Stadt: „Strukturierte, bepflanzte Fassaden, renaturierte Böden und offene Wasserläufe sind nicht nur wichtige ökologische Maßnahmen, sondern auch notwendig für eine akustisch gesunde Stadt.“
Sehnsucht nach Stille
Akustisch gesund, das bedeutet in seinen Augen vor allem eine Vielfalt von Geräuschen und Lautstärken, anstatt einer eintönigen Geräuschkulisse. „Das Recht auf Lautstärke muss gewahrt bleiben, es braucht aber eine örtliche und zeitliche Eingrenzung.“ Stille Nachtstunden nach einem geschäftigen Tag, ein ruhiges Wochenende, bevor die Arbeitswoche wieder beginnt, und neben lauten Geschäfts- und Durchzugsstraßen auch zahlreiche Orte für Ruhe – denn die Sehnsucht danach, immer wieder einmal Stille erfahren zu können, haben die Menschen heute genauso wie vor 150 Jahren – auch dann, wenn sie die Lebendigkeit des urbanen Raumes grundsätzlich schätzen.
In Wien ist diese Stille nie weit weg. Wer sie sucht, kann sich natürlich auf den Weg hinaus machen: in den Wienerwald, in die Lobau oder durch die Weinberge auf den Kahlenberg. Aber auch mitten in der Stadt gibt es Plätze, die auf Wiens Lärmkarte ganz offiziell als „ruhige Gebiete“ eingezeichnet sind. Dazu gehören Teile des Praters, das Landschaftsschutzgebiet Favoriten, der Wienerberg und der Schlosspark Schönbrunn. Insgesamt nehmen diese ruhigen Orte 133 Quadratkilometer Fläche ein. Hier wird der Schwellenwert von 50 Dezibel nicht überschritten, ein Lautstärkepegel, der zwischen Flüstern und normaler Konversation liegt.
Und dann gibt es sogar Orte, an denen man die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören kann: In den Lesesälen der Bibliotheken gehört es bis heute zum guten Ton, eben keinen Ton von sich zu geben. Mobiltelefone sind selbstverständlich stummgeschaltet, und nicht einmal das Rascheln eines Schokoladenpapiers stört hier Konzentration und Ruhe.
Beitragsbild: © WienTourismus/Christian Stemper